Ihr, meine und eines ruchlosen Vaters Kinder (2006)
Für Sopran, Sprecher und Orchester
Alexandra Lubchansky, Ernst Stötzner, hr-Sinfonieorchester, Ltg. Christoph Poppen
Die Tode des Orpheus (2017)
Für Countertenor und Orchester
Lawrence Zazzo, Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken-Kaiserslautern, Ltg. Jonathan Stockhammer
Interpret(en)
Rolf Riehm wurde 1937 in Saarbrücken geboren. Er studierte zunächst Schulmusik in Frankfurt am Main und ab 1958 Komposition bei Wolfgang Fortner in Freiburg. Danach Tätigkeit als Solo-Oboist (u.a. mit „Ungebräuchliches“ bei den Internationalen Ferienkursen Darmstadt 1966). Riehm ist Mitbegründer der Frankfurter Vereinigung für Musik, die von 1964 bis 1970 existierte. Nach dem kurzen Schuldienst war er ab 1968 Dozent an der Rheinischen Musikschule Köln, wo er bis 1972 auch Mitglied der „Gruppe 8“, einem Zusammenschluss Kölner Komponisten, war. 1968 erhielt er die Auszeichnung „Premio Marzotto per la Musica“ und ein Stipendium der Villa Massimo, das ihm einen Aufenthalt in Rom ermöglichte. Von 1974 bis 2000 war Rolf Riehm Professor für Komposition und Tonsatz an der Musikhochschule Frankfurt am Main. Von 1976 bis 1981 war er Mitglied des legendären „Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters“ Frankfurt. Konzertreisen, Vorträge und Workshops führten ihn u.a. nach Schweden, Mittel- bzw. Südamerika und Japan. 1992 erhielt er den Kunstpreis des Saarlandes, 2002 den Paul-Hindemith-Preis der Stadt Hanau, seit 2010 ist er Mitglied der Berliner Akademie der Künste.
Tracklisting
- Ihr, meine und eines ruchlosen Vaters Kinder (2006)
Alexandra Lubchansky, Ernst Stötzner, hr-Sinfonieorchester, Ltg. Christoph Poppen
Die Tode des Orpheus (2017)
Für Countertenor und Orchester
Lawrence Zazzo, Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken-Kaiserslautern, Ltg. Jonathan Stockhammer
- I. Die Musen weinen um Orpheus
- II. Die Bakchantinnen des Dionysos zerrissen Orpheus – Sonnenbild
- III. Die Mainaden töteten mich und ihre Männer
- IV. Die Zerstörung Palmyras
- V. Orpheus‘ Kopf war an die Lyra genagelt und schwamm singend ins Meer
- VI. Threnodie zur Kithara
Produktbeschreibung
Überlegungen zur Komposition „ihr, meine und eines ruchlosen Vaters Kinder“
Der Jelinek-Text sind die Regieanweisungen aus „Der Tod und das Mädchen 5“. Ein Sprecher über Lautsprecherzuspielung spricht sie. Der Verlauf der Handlung geht aus diesen Regieanweisungen deutlich hervor. Die Handelnden jedoch sind nicht diejenigen des Textes, nämlich Ingeborg (= Bachmann) und Sylvia (= Plath), sondern die „Handlung“ spielt sich im Orchester ab.
Und zwar ist dies eine musikalische Narration von gewissermaßen katastrophischem Zuschnitt. Kompositorische Konzeption: von den abgründigen Zuständen handeln, in denen wir uns gegenwärtig befinden, die wir durchschauen und bewältigen wollen, denen wir uns hilflos ausgesetzt sehen.
Die Sicherheit der Wahrnehmung ist ebenso verloren gegangen wie die Zuversicht in die konstruktiven Mittel. Das Orchester bricht in regressive Paniken aus, klammert sich an krude Habseligkeiten (Tonleitern, Akkorde...), „irrwitzige Verweise“ auf Bach, Mozart, Brahms, verschlüsselt: „Mädchen von Guantanamo“; wie Strohhalme.
Mit den „irrwitzigen Verweisen“ auf frühere Musik kommt ein Zug von Regression in das Stück. Zurück in ein „früheres“ Stadium, in dem die Dinge noch handhabbar waren, das Verlangen nach einem befriedeten Zustand: „unbeschädigte“ (= unbehauene, unbelastete) Figuren. Alles natürlich verzagte, unzulängliche Mittel.
Was den erneuten Rückgriff auf den Mythos anlangt (Hesiod), teile ich die Haltung vieler Autoren, Filmemacher, Theatermenschen etc.: Wir müssen uns die alten Geschichten wieder und wieder erzählen, um uns in Zeiten der Verwirrung angesichts einer in Stücke gehenden Gegenwart über die Erfahrungen klar zu werden, die wir über die Zeiten hin gemacht haben. Wie hat man solche Verwirrung gemanagt, welche Bilder dafür entwickelt, wie das alles erzählt?
Eine wunderbare Bemerkung von Alexander Kluge klingt mir im Ohr. Über solche Erzählungen, sagt er, vernetzen wir uns, versichern wir uns unseres Eigensinnes und wir trösten uns.
Während der Arbeit an dem Stück kochte wieder die Diskussion um das Gefangenenlager auf Guantanamo hoch. Man denkt in solchen Arbeitsphasen in musikalischen Allusionen und Metaphern und die betreffenden Nachrichten, Kommentare usw. waren bei mir fast zwanghaft mit dem bekannten Lied „Guantanamera“ = „Mädchen von Guantanamo“ unterlegt. Die Obsession bin ich losgeworden durch die Einarbeit des Liedes in das Stück („verschlüsselt“ = Siglum = Kennzeichnung, vor allem: Bannung).
Die Sängerin tastet, meist fast behutsam, die Klangraumlagen ab, es erklingt aber der schreckliche Bericht über die Kinder von Erde und Himmel (Hesiod).
Wer sind diese Kinder? Das sind wir, die wir leiden und leiden machen.
Überlegungen zur Komposition "Die Tode des Orpheus"
Die überlieferten Erzählungen handeln in einzelnen „Kapiteln“ vom Tod des Orpheus, mal als berichtende Texte, mal in Ich-Form als Äußerungen des Orpheus.
Verschmolzen darein sind Nachrichten aus der Gegenwart über die Zerstörungen in der Region Naher Osten (z.B. im IV. Kapitel Die Zerstörung Palmyras). Weitere solcher „Einschmelzungen“ sind zeitgenössische anonyme Texte und Verse aus dem Gilgamesch Epos. Sie sind in den „poetischen“ Textkörper der diversen Legenden über den Tod des Orpheus gewissermaßen hineingegossen.
Das Stück hat keinen „Gesamtbau“. Die Kapitel sind eigenständige Erzählfelder, zwischen ihnen gibt es keine irgendwie geartete Linie.
Hörempfehlung daher: sich einzelne Kapitel vornehmen, etwa 1 – 3 oder 2 – 4 – 3 oder nur 2 oder 5 – 4 oder nur 6 oder nur 1 u. ä.
Eher nicht alles hintereinander anhören!
Aber immer ist der Lyriker Orpheus zu hören. Das Orchester bricht an vielen Stellen seine Silben auf, es ruft, es brüllt, schreit die brutalen Hintergründe in den Saal, die hinter den „gesanglichen“ Äußerungen des Orpheus liegen. Das kann sich dann ausnehmen wie hereingeworfene Stein- oder gar Felsbrocken.
Ich möchte mit der Komposition darauf hingearbeitet haben, dass die Orpheus-Legenden als „Masken“ (im Sinne der antiken persona-Auffassung) für höchst gegenwärtige Berichte und „Erzählungen“ aus dieser Weltgegend, die ja im weitesten Sinn die des Orpheus ist, wahrgenommen werden können.
Der Jelinek-Text sind die Regieanweisungen aus „Der Tod und das Mädchen 5“. Ein Sprecher über Lautsprecherzuspielung spricht sie. Der Verlauf der Handlung geht aus diesen Regieanweisungen deutlich hervor. Die Handelnden jedoch sind nicht diejenigen des Textes, nämlich Ingeborg (= Bachmann) und Sylvia (= Plath), sondern die „Handlung“ spielt sich im Orchester ab.
Und zwar ist dies eine musikalische Narration von gewissermaßen katastrophischem Zuschnitt. Kompositorische Konzeption: von den abgründigen Zuständen handeln, in denen wir uns gegenwärtig befinden, die wir durchschauen und bewältigen wollen, denen wir uns hilflos ausgesetzt sehen.
Die Sicherheit der Wahrnehmung ist ebenso verloren gegangen wie die Zuversicht in die konstruktiven Mittel. Das Orchester bricht in regressive Paniken aus, klammert sich an krude Habseligkeiten (Tonleitern, Akkorde...), „irrwitzige Verweise“ auf Bach, Mozart, Brahms, verschlüsselt: „Mädchen von Guantanamo“; wie Strohhalme.
Mit den „irrwitzigen Verweisen“ auf frühere Musik kommt ein Zug von Regression in das Stück. Zurück in ein „früheres“ Stadium, in dem die Dinge noch handhabbar waren, das Verlangen nach einem befriedeten Zustand: „unbeschädigte“ (= unbehauene, unbelastete) Figuren. Alles natürlich verzagte, unzulängliche Mittel.
Was den erneuten Rückgriff auf den Mythos anlangt (Hesiod), teile ich die Haltung vieler Autoren, Filmemacher, Theatermenschen etc.: Wir müssen uns die alten Geschichten wieder und wieder erzählen, um uns in Zeiten der Verwirrung angesichts einer in Stücke gehenden Gegenwart über die Erfahrungen klar zu werden, die wir über die Zeiten hin gemacht haben. Wie hat man solche Verwirrung gemanagt, welche Bilder dafür entwickelt, wie das alles erzählt?
Eine wunderbare Bemerkung von Alexander Kluge klingt mir im Ohr. Über solche Erzählungen, sagt er, vernetzen wir uns, versichern wir uns unseres Eigensinnes und wir trösten uns.
Während der Arbeit an dem Stück kochte wieder die Diskussion um das Gefangenenlager auf Guantanamo hoch. Man denkt in solchen Arbeitsphasen in musikalischen Allusionen und Metaphern und die betreffenden Nachrichten, Kommentare usw. waren bei mir fast zwanghaft mit dem bekannten Lied „Guantanamera“ = „Mädchen von Guantanamo“ unterlegt. Die Obsession bin ich losgeworden durch die Einarbeit des Liedes in das Stück („verschlüsselt“ = Siglum = Kennzeichnung, vor allem: Bannung).
Die Sängerin tastet, meist fast behutsam, die Klangraumlagen ab, es erklingt aber der schreckliche Bericht über die Kinder von Erde und Himmel (Hesiod).
Wer sind diese Kinder? Das sind wir, die wir leiden und leiden machen.
Überlegungen zur Komposition "Die Tode des Orpheus"
Die überlieferten Erzählungen handeln in einzelnen „Kapiteln“ vom Tod des Orpheus, mal als berichtende Texte, mal in Ich-Form als Äußerungen des Orpheus.
Verschmolzen darein sind Nachrichten aus der Gegenwart über die Zerstörungen in der Region Naher Osten (z.B. im IV. Kapitel Die Zerstörung Palmyras). Weitere solcher „Einschmelzungen“ sind zeitgenössische anonyme Texte und Verse aus dem Gilgamesch Epos. Sie sind in den „poetischen“ Textkörper der diversen Legenden über den Tod des Orpheus gewissermaßen hineingegossen.
Das Stück hat keinen „Gesamtbau“. Die Kapitel sind eigenständige Erzählfelder, zwischen ihnen gibt es keine irgendwie geartete Linie.
Hörempfehlung daher: sich einzelne Kapitel vornehmen, etwa 1 – 3 oder 2 – 4 – 3 oder nur 2 oder 5 – 4 oder nur 6 oder nur 1 u. ä.
Eher nicht alles hintereinander anhören!
Aber immer ist der Lyriker Orpheus zu hören. Das Orchester bricht an vielen Stellen seine Silben auf, es ruft, es brüllt, schreit die brutalen Hintergründe in den Saal, die hinter den „gesanglichen“ Äußerungen des Orpheus liegen. Das kann sich dann ausnehmen wie hereingeworfene Stein- oder gar Felsbrocken.
Ich möchte mit der Komposition darauf hingearbeitet haben, dass die Orpheus-Legenden als „Masken“ (im Sinne der antiken persona-Auffassung) für höchst gegenwärtige Berichte und „Erzählungen“ aus dieser Weltgegend, die ja im weitesten Sinn die des Orpheus ist, wahrgenommen werden können.